„Heute Abend ist Super-Moon, wir fahren alle mit den Kajaks raus und sehen ihn vom Meer“ höre ich eine Männerstimme neben mir sagen.

Meine Neugierde schreit mich an: JAAAA - machen! Wie aufregend. Auf dem Meer sein, in völliger Ruhe und Einsamkeit und mit meinem Liebsten den Mond anschauen -wahnsinnig coole Idee.

Die Entscheidung ist schnell getroffen: wir machen das. Um 21 Uhr werden die Sachen schnell ins Auto geworfen und wir düsen an die Küste, 30 Minuten Fahrt von der Villa Froschewitz.

Dort angekommen werden alle Dinge ins Boot geladen, Schwimmwesten, alles verstaut. Es kann losgehen. Ich steige ins Boot - und zack ist sie da. Eine Mords-Angst.

Mir ist schwindelig. Ich kann mich schlecht orientieren. Alles wackelt.

Shit. Was tu ich hier? Warum um alles in der Welt sitze ich in diesem viel zu engen Teil, auf dem Wasser, das michtief und dunkel anmurmelt?! Ich muss doch bekloppt sein – das machen doch nur mutige Menschen!

Ich. Laura Roschewitz. 35-jährigeWirtschaftspsychologin. Natur-Fan. Angst-Betroffene. Schwindel-Patientin.

Ich sitze in diesem Boot und eine starke Angst durchzieht meinen Körper. Meinen Geist. Ich atme unruhig bzw: ich brauche viel Aufmerksamkeit, um überhaupt zu atmen. Ich werde leicht panisch. Ich sehe nichts - die Organe, auf die ich mich Tag für Tag verlassen kann, versagen.

Okay. Was jetzt? Aussteigen und nach Hause? Hmm.

In meinem inneren Orchester posaunt die Neugierde „NIEMALS, nicht ums Verrecken! Du hast uns Abenteuer versprochen, halt Dein Wort!“ Unmittelbar setzt die Angst-Mundharmonika ein und singt mir das Lied vom Kajak-Tod. „Ganz ehrlich Laura, Du bist noch nie richtig Kajak gefahren. Jetzt ist es dunkel, ihr seid hier mutterseelenallein. Was ist wenn...?! Ich spreche es ja nicht aus, aber es ist sehr gefährlich. Und das Wasser ist soooo eiskalt hier in Schweden. Ich muss Dir nicht sagen, wie gefährlich das ist?“

Shit. Ich als Dirigentin bin gelähmt. Aus Mundharmonika und Posaune wird ein schier unerträglicher Lärm. Beide reden auf mich ein - und dann kommt zu guter Letzt noch der grummelige Ton des Ratio-Kontrabasses.

„Dein Ernst? 30 Minuten Autofahrt für Nichts? Du willst die Umwelt schonen, fährst dann für etwas ‚nur Schönes, Just for Fun‘ so weit mit dem Auto - und willst jetzt umdrehen? Du bist 35 Jahre alt - reiß Dich mal am Zippel, junge Frau. Andere Menschen schaffen das auch, aufs Wasser zu paddeln“.

Kurz überlege ich, meinen Dirigentinnen-Stab hinzuwerfen. Alles aufzugeben und die Drei sich selbst zu überlassen. Neugier-Posaune. Angst-Mundharmonika. Und der Ratio-Kontrabass.

Ich scheine eine schlechte Dirigentin zu sein, ich habe die drei nicht im Griff. Ob sich ein Dirigentinnen-Stab zum Spargel-Stechen eignet? Ich denke über Berufswechsel nach. Scheine ich doch eine grottenschlechte Dirigentin zu sein. Spargel-Stecherin?! Sicher die bessere Wahl.

STOPP - rufe ich. Es reicht!

Ich nehme mir das Paddel und mache die ersten zaghaften Bewegungen. Ich löse mich vom Steg - und habe furchtbare Angst. Ich paddle eine kleine Runde, während ich mit dem Paddel die drei Instrumente dirigiere. Alle dürfen da sein - aber keine lärmt so laut wie eben. Langsam entsteht wieder ein Takt, eine Melodie.

Meter für Meter entferne ich mich vom Steg. Erst zwei kleine Runden. Mit viel Angst im Körper. Dann entscheide ich: eine größere Runde. Jetzt. Kurzes Aufbäumender Mundharmonika - doch ich kann sie einfangen. Ich paddle und atme. Beides braucht viel Aufmerksamkeit. Plötzlich stockt mein Atmen und ich lasse das Paddel fast fallen.

Groß. Beeindruckend. Mächtig. Fast erdrückend groß am Himmel: der Mond.

Die leise Geige der Demut beginnt mit einzustimmen und es wird ganz ruhig.

Ein, zwei Momente einfach nur Sein.

Staunen. Bewundern.

Auf dem Rückweg zum Steg lasse ich das Orchester nochmal etwas Fahrt aufnehmen - es trägt mich zurück. Nicht zuletzt das laute, bestärkende und kraftvolle Mitwirken der Trommel des Stolzes gibt mir Schub - und schon lege ich am Steg an. Glücklich. Stolz. Demütig. Und ganz schön erschöpft.

Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst.

Was in einem Jahr alles passieren kann, ist einfach nur der Wahnsinn - ich bin ziemlich sprachlos (und das passiert nicht so oft 😀 )

Ich versuche es mal chronologisch 🙂

Anfang April 2021:

Gretel und ich haben gemeinsam die wundervolle Mastermind-Gruppe Smash it! gegründet. Seit einem Jahr begleiten wir spannende selbstständige Frauen auf ihrer Reise zur erfolgreichen Unternehmerin!

Was für ein Ritt dieses Jahr 🙂 Ich bin so dankbar für jeden Moment, jede Frau die mit uns reist und natürlich besonders meine zweite Business-Hälfte Gretel!

7. April 2021: Wir reisen nach Schweden, für 7 Monate haben wir ein Haus gemietet und wagen das Abenteuer, von dem wir lange dachten, dass das nur für andere geht und bestimmt für uns nicht! 

Ob das gut gehen wird? Keine Ahnung!

Ob uns langweilig wird im Wald? Kann sein! 

Ob wir uns als Paar auf die Nerven gehen? Mit Sicherheit!

Ob mein Business wirklich 100% online geht? Ich glaube - aber weiß es nicht!

2021: Das Jahr der vielen gesprochenen Worte. Es sind 151 Folgen Podcast entstanden - aktuell sind es bereits 190 Impulse für eine erfolgreiche und schöne Selbstständigkeit! 

Wahnsinn, wenn ich darauf zurückblicke bin ich ganz schön stolz! Yes. Ich. Bin. Stolz. Auf. Mich. Auf. Uns.

Im November 2021 kaufen Kalle & Ich unsere kleine Villa Froschewitz - unser mukkeliges Häuschen an der Ostküste Schwedens, direkt vor dem Schärengarten. Unsere Räuberhöhle.

Was als Sommerhäuschen gedacht war, entpuppte sich schnell als unsere große Liebe. Wir haben fast den ganzen Winter hier verbracht, Erfahrungen gesammelt, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie jemals machen werde.

War das geplant? NO!
Wir hatten eine Checkliste für ein potentielles Traumhaus. Dort standen folgende 10 Punkte:

Was meinst Du, wie viele Punkte hat unsere Villa Froschewitz?

Null. Ganz genau Null!
Es ist ein winziges Haus in the f*** middle of nowhere. Mit miesem Internetempfang. Niedrigen Decken. Keinem Badezimmer. Aber so viel Potential und Liebe!

Warum haben wir es gekauft? Weil wir uns so lebendig, frei und wohl an diesem Ort fühlen wie vielleicht noch nie in unserem Leben!

Was habe ich gelernt, in diesem Entscheidungsprozess?
Es ist wichtig, gerade als Selbstständige Unternehmerin, sich klare Ziele und Wünsche zu formulieren und an diesen zu arbeiten.
Es ist wichtig, sich nicht in Ausreden, Unklarheiten und Schwammigkeit zu verlieren.
UND es ist wichtig, das Leben zu sehen und mit ihm zu gehen. 

Nicht die Augen zu verschließen und in den Ziel-Tunnel zu gehen. Das macht mich unfrei und eng.

Ich habe meinen Geburtstag am 06. Dezember 2021 am kältesten Nikolaus Tag seit 35 Jahren in Schweden gefeiert. Ja, seit 1986 - meinem Geburtsjahr 🙂 

Minus -19 Grad und Winterzauber haben mir einen der schönsten Tage meines Lebens beschert! 

Heute ist der 2. Mai. Unser Schweden-Abenteuer rundete sich bereits zum Einjährigen. Genau wie unsere Mastermind-Gruppe SMASH IT!


Ich war 10 Tagen ganz alleine in Schweden. In the middle of nowhere. Ich kann kein anderes Haus sehen. Kein Licht. Keine Laterne. Keine Autos.
Ich habe kein warmes Wasser aus dem Hahn, ich muss jeden Morgen die Öfen anwerfen und habe im Haus morgens nur noch 10-12 Grad. Und ich bin alleine.

Und stelle mich einer weiteren Angst und einem Glaubenssatz über mich selbst, den mein Kopf noch vorrätig hat: ich kann nicht alleine sein. 

Also, ich kann nicht RICHTIG alleine sein. Ich bin abhängig von anderen und kann sowas nicht. 

Diese Überzeugung begleitet mich schon lange. Sehr lange. Und hat mich lange in einer Millionenstadt leben lassen, obwohl ich eigentlich woanders sein wollte. Obwohl es sich nach Käfighaltung und Einsamkeit anfühlte bin ich geblieben - zum Großteil wegen dieses Satzes.

Und während ich schreibe schießt mir noch ein Jubiläum in den Sinn, welches ich feiere in diesen Tagen.

Vor 6 Jahren, am 30.03.2016 bin ich aus der psychosomatischen Klinik entlassen worden. Dort wurde ich fast 3 Monate behandelt. 

Diagnose: Generalisierte Angststörung, mittelgradige Depression, Suchtstrukturen und dependenten Persönlichkeitsstrukturen. 

Was hätte mein ICH gesagt, wenn Du mir damals skizziert hättest, wo ich heute bin? Wie sich mein Leben heute anfühlt?

Ich hätte Dir so den Vogel gezeigt. Ich wäre wütend geworden, weil ich Dir vorgeworfen hätte, dass Du mich nicht ernst nimmst. Das Du keine Ahnung davon hast, wie schwer das Leben für mich mit dieser Diagnose ist. Das ich das alles einfach nicht KANN. 

Ich bin so unendlich froh, dass da diese kleine Rebellin in mir wohnt. 

Die, die gerne Dinge in Frage stellt. 

Die, die sich nicht einfach zufrieden gibt.

Die, die nervt und zu viel ist.

Die, die immer nochmal nachfasst, ob das wahr ist.

Die, die provoziert, weil sie echte Beziehungen leben will.

Die, die sich selbst schon oft neu erfunden hat.

Diese Rebellin hat irgendwann entschieden, ohne das es ein bewusster Prozess war: nein!

Nein, das möchte ich nicht. 

Ich bin nicht meine Angst.

Sie ist Teil von mir. Ich bin Teil von ihr.
Wir sitzen in einem Vehikel.
Wir brauchen einander. 
Ich brauche sie, um achtsam zu sein. Wachsam. Hellhörig und -fühlig. 


Ich bin es aber nicht. Ich bin nicht Angst.
Ich bin nicht meine Diagnose. 

Ich bin Laura. Roschi. Olga. Das Känguru. Ich bin verschiedene Rollen, Personen. 

Die erfolgreiche Unternehmerin. Die ängstliche Person. Die Zweifelnde. Die Rastlose. Die sehr Glückliche und die manchmal am Boden liegende. 


Das bin ich. Here I am!
Und ich weiß nicht, wo es noch hinführt.

Ich weiß es nicht - und das ist gut so.
Denn wenn ich gewusst hätte, wo ich heute stehe, hätte mir das so viel Angst gemacht, das ich nicht gegangen wäre. 

Mein Geheimnis ist das UND. 

Ich habe Ängste und bin mutig.
Ich führe eine tolle Beziehung und habe tiefe Krisen.

Ich bin erfolgreiche Unternehmerin und zweifle an mir und meiner Tätigkeit. 

Ich verbringe gerade viel Zeit in Schweden und liebe Hamburg, die Kanaren und Italien!

Ich liebe Hunde und habe einen Kater 😀

Ich werde ein Buch schreiben und habe keine Idee wie das gehen soll.

Ich führe tiefe, nahe und intime Beziehungen und grenze mich ab.

Ich liebe meine Tätigkeit und denke manchmal darüber nach, alles hinzuschmeißen.

Ich liebe die Einsamkeit und mir fehlt die Stadt manchmal. 


Ich bin so sackfroh, dass ich irgendwann wirklich erkannt habe, dass das UND der Unterschied ist.

Ich habe jahrelang versucht, mich zu entscheiden.
Eins zu sein und dabei zu bleiben. 

Nicht so wackelig.
Nicht so unentschlossen.
Nicht so anstrengend.
Nicht so viel.

Doch weißt Du was?


Wenn ich mich hätte entscheiden müssen, dann wäre es mir nur möglich gewesen, mich für die Angst zu entscheiden. Dann wäre ich für die Angst gegangen.
Für meine Diagnose. Für die Laura, die halt nunmal Angst hat. 

Denn es war so präsent. So laut. So da. 


Als ich Begriffen habe, dass es keine Weggabelung ist, an der ich mich entscheiden muss.

Das wird mir erzählt. Aber das ist nicht wahr. 

Das Leben ist ein Wald, eine Wiese, ein Strand. Und ich kann überall langgehen.
Manchmal laufe ich gegen Bäume.
Manchmal muss ich Umwege gehen, weil ein Fluss im Weg ist.

Manchmal stehe ich einfach nur am Meer und gucke in die Weite. 

Das Leben ist kein Weg, der eine Gabelung hat an der ich nur noch eine sein kann.

Versteh mich nicht falsch: ich bin absolut FÜR Entscheidungen und GEGEN Wischiwaschi und Aussitzen.  

Ich bin pro-aktiv und gegen abwarten und das Leben nur geschehen lassen.
Ich bin Selbstwirksamkeits- und Handlungsfähigkeits-Fan!

Mein Leben hat mich allerdings gelehrt, dass das oder (A oder B) an sogenannten Gabelungen viele Menschen erstarren lässt. Und Entscheidungen erschwert.

Denn an dieser Gabelung stehen zehntausende Menschen.

Wie das Reh im Scheinwerferlicht.
Wie das Kaninchen vor der Schlange.

Denn auf einem Schild steht Angst. Und auf dem anderen Mut. 

Und wer voll mit Angst ist, kann sich nicht für den mutigen Weg entscheiden. 

Mein Tipp nach vielen Jahren an dieser Kreuzung:

Dreh Dich um. Wisse um Angst & Mut in Deinem Rücken, als zwei kraftvolle Unterstützer.

Und dann geh Deine Schritte, die nach Dir rufen!

Fotocredits @feuerquell Fotografie - Jakob Prößdorf

Nein – ich bin nicht die Kalenderspruch-Frau, die Dich fragt:

Was würdest Du heute tun, wenn Du keine Angst hättest?

Damit Du dann antworten kannst:

Auswandern | Eine Firma gründen | Kündigen | Meine*n Partner*in verlassen | Meinen Eltern ehrlich sagen, was mich verletzt | Wegziehen und nochmal neu starten | Alles verkaufen und den Jakobsweg wandern | Mutter werden | Meinen Bausparvertrag kündigen und das Geld verprassen | Mir die Haare abrasieren | Mit Sport anfangen | Mich auf einen Menschen einlassen, den ich liebe | Über meine wahren Träume und Visionen sprechen | Alleine sein und mich aushalten | Schweigen | Einen ted-Talk halten | Ein höheres Gehalt verhandeln | Eine Affäre beginnen | Eine Affäre beenden | Für meine Werte einstehen – mit allen Konsequenzen | Aufhören Alkohol zu trinken und mich zu betäuben | Atmen | Eine Weltreise machen | Einen Bulli kaufen | Einen Resthof für Tiere ins Leben rufen | Vegan leben...

Denn: diese Frage lässt unsere Phantasie auf Hochtouren laufen. So weit – so gut.

Allerdings kommt sie mit einem Haken um die Ecke. Sie befreit uns innerlich von der Erfahrung, dass wir Angst haben, wenn wir Dinge in unserem Leben anschieben, verändern, beenden oder beginnen. Sie impliziert, dass wir all diese Dinge einfach tun könnten und würden, wenn wir doch bloß keine Angst hätten. Sie mutmaßt, dass es einen Moment gibt, an dem wir keine Angst mehr haben und dass in jenem Moment die Magie geschieht.

Vermutlich ist so eine Frage jedem von uns schon einmal im Feed bei Facebook oder Instagram begegnet. Und ich, als Leserin, bin ganz aufgeregt. Euphorisch. Neugierig und mutig, wenn ich meine Antwort unter den Post tippe. Ich fühle mich wie die Pippi Langstrumpf Abenteurerin, die jetzt aufs große Meer segelt und ihre heimlichen, stillen und großen Visionen in die Tat umsetzt.

Enter. Abgesendet. Allen gezeigt, welche wilden und unerwarteten Seiten in mir Schlummern.

Doch woran liegt es, dass die wenigsten aufstehen, die Ärmel hochkrempeln und ihre Bekundung in die Tat umsetzen? An der so simplen wie tragischen Fehlannahme:

Mut ist, wenn ich keine Angst mehr habe.

Mit dieser Grundannahme gehen Millionen Menschen durchs Leben, denn das ist, womit wir uns kollektiv befassen und was uns in Ratgebern, von Coaches und in der Medizin/Psychologie geraten wird:


Das ist das ausgesprochene Ziel dieser Versprechen: keine Angst fühlen. Nicht ängstlich sein. Dann wären wir in der Lage, ein mutiges, ein wildes, ein erfülltes und ein freies Leben führen.

Wenn doch bloß diese verfluchte Angst nicht wäre!

Ich muss also doch erstmal an mir arbeiten und mich mit dem Schweren, der Last befassen, bevor ich dann endlich irgendwann frei und mutig sein kann. Na gut. Dann eben doch noch nicht das schöne Leben – aber ich arbeite dran. Noch ein Bestseller lesen. Ein Coaching absolvieren. Schließlich investieren wir ja in eine tolle Perspektive: wenn wir es endlich geschafft haben, die Angst ein für alle Mal los zu sein - dann wartet das Mut-Schlaraffenland auf uns!

Die Frage, die diesem Blog-Artikel zu Grunde liegt: Stimmt das wirklich?

Bin ich entweder ängstlich oder mutig?

Sehnen ängstliche Menschen sich nach Mut und die Mutigen spüren keine Angst?

Denn, was ich in meiner Arbeit mit Menschen immer und immer wieder erkenne: Entweder betrachtet sich jemand als mutig (oftmals Wunsch) oder er/sie fühlt eben doch viel Angst (meistens Realität) und sehnt sich nach mehr Mut.

Ich mach es kurz und schmerzhaft: vergiss die Vorstellung, dass Du ohne Angst mutiger wärst als mit ihr!
Sage ihr Bye-Bye und lass Dich auf meine folgenden Zeilen ein 🧡

Denn diese Annahme ist, auch wenn sehr verbreitet, aus zwei Perspektiven nicht hilfreich und, aus meiner Erfahrung, schlichtweg falsch. Denn:

1. Angst ist notwendig und gut

Zu diesem Punkt möchte ich den wunderbaren Fritz Riemann zitieren:

„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen
begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. […] Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden […] sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit versprechen, sollten wir mit Skepsis betrachten; sie werden der Wirklichkeit menschlichen Seins nicht gerecht und erwecken illusorische Erwartungen.“

Die Angst gehört zu uns Menschen, sie machte Entwicklungen und Veränderungen möglich. Ihre Abwesenheit anzustreben kommt einer unerfüllbaren Lebensaufgabe gleich – die viel Energie kostet und oftmals nicht mit dem belohnt wird, nachdem wir uns so sehr sehnen: Mut und Vertrauen.


2. Ohne Angst ist kein Mut möglich

Blicke einmal in Dein Leben zurück: was sind und waren die Momente, in denen Du retrospektiv sagst „Mensch, da war ich ja ganz schön mutig“. Lass mich raten. Vermutlich, als Du etwas getan hast, was Dir vorher Angst gemacht hat. Was Dir Sorgen bereitet und Dich aufgewühlt hat. Etwas, das nicht selbstverständlich ist und oftmals vorher mit einem klaren oder diffusen Gefühl der Angst in Verbindung stand.

Warum solltest Du also die Angst bekämpfen, wenn sie Dir in der Vergangenheit schon mutige Momente ermöglicht hat? Nenne mir einen Grund 😉

Zurück zu der Frage: Was würdest Du heute tun, wenn Du keine Angst hättest? All die Menschen, die „noch“ Angst fühlen, laufen also dem Wunsch hinterher, auch endlich mutig zu sein. So mutig wie diese bewundernswerten Menschen, die (wie auch immer sie das geschafft haben) keine Angst haben, sondern mutig sind!

Und weißt Du was? Das macht mich wütend. Weil so unglaublich viele tolle Ideen, Visionen und Wünsche nicht in die Welt kommen, aufgrund dieser falschen Annahme. Also, Ärmel hoch und aufräumen!

Dazu möchte ich Dir einen kurzen aber intensiven Blick in meine Geschichte mit der Angst schenken – in meine Lebensgeschichte. Es war nicht immer eine Liebesgeschichte – ganz im Gegenteil. Es fing als Blockbuster-Drama mit Oscar-Nominierung an.

Mit 25 Jahren, am Ende meines Studiums, trafen mich von einem Tag auf den anderen Angstzustände und Panikattacken.

Ich. Die selbstbewusste, mutige und wilde Studentin Olga (mein Spitzname aus Kneipenzeiten). Ein Freigeist. Reisen. Leben. Lachen. Feiern. Partys. Politik. Diskussionen. Freundeskreis. Aktiv. Die, die jedes Wochenende feiernd auf dem Hamburger Kiez unterwegs war. Männer und Frauen datete, wild tanzte und die Nächte zum Tag machte. Ich. Die durch Venezuela und Marokko reiste, die nachts arbeitete und tags studierte, um sich ihr Wunsch-Leben selbst zu finanzieren. Autonom sein. Emanzipieren. Ich. Die stets unabhängig sein wollte und sich nicht einsperren lassen.

Ich saß nun da. In meiner WG und konnte nichts mehr. Nicht mehr Zug fahren. Nicht mehr unter Menschen gehen. Nicht mehr in die Uni. Nicht mehr feiern. Nicht mehr schlafen. Nicht mehr alleine sein. Nicht mehr mit anderen sein. Panik war mein täglicher Begleiter. Wie aus heiterem Himmel hat sich mein Leben so dramatisch verändert und eingeschränkt, dass mein Radius nur noch aus meinem Zimmer und ein paar sehr ausgewählten Freund*innen und meiner Mutter bestand.

Scham und Ausreden begleiteten meinen Alltag.

Hej Laura – bist Du heute beim Fussball, Konzert und Feiern dabei?

Nein. Ich habe Kopfschmerzen und bin heute raus.

Lauraaaa – ich hab Dir schon mal ein Bier bestellt – wo bleibst?

Ich kann heute nicht, bin woanders.

Olga – Uni ohne Dich ist langweilig.

Ich bin verkatert – schaff es erst morgen wieder!

....

Ein 🐈‍ & 🐭 Spiel. Es wurde immer enger um mich. Ich erfuhr Kritik und wenig Verständnis im Außen, da meine Ausreden immer holpriger wurden. Ich fiel aus Netzen raus, versuchte es noch irgendwie zu kaschieren. Das Verstecken wurde zur größten Last.

Bis ich im Mai 2012 die Reißleine zog. Nichts ging mehr. Knockout.

Raus aus der Stadt. Mit 25 wieder zu der Mutter ziehen. Rückzug. Wochenlang im Bett liegen. Nicht zwischen Blumenkohl und Brokkoli entscheiden können. Nicht alleine sein können. Nicht alleine in den Wald gehen können. Nicht Auto fahren. Mein Radius war in etwa so klein wie mein Selbstbewusstsein.

An dieser Stelle möchte ich auf einen wichtigen Punkt eingehen, der mir in puncto psychische Erkrankungen sehr wichtig ist. Ich habe mehrere Jahre meines Lebens an einer generalisierten Angst- und Panikstörung und mittelgradigen depressiven Episode gelitten. In diesem Blog-Artikel verharmlose ich nicht die Bedeutung dieser Erkrankung. Sie gehören in unserer Gesellschaft enttabuisiert und thematisiert. Diese Erkrankung ist nichts, was ich als „positiv“ oder „erstrebenswert“ darstelle. Sie geht oftmals mit einem hohen Leidensdruck für die Betroffenen einher und gehört von professionellen und liebevollen Händen begleitet und behandelt. Und: auch damals hätte mir sehr geholfen, neben Tiefenpsychologie, Trauma-, Kunst- und Konfrontationstherapie und Schul-Medizin (alle diese Bereiche haben mir auf meinem Weg sehr geholfen und haben ihre Daseinsberechtigung) auch (!) zu lernen, dass es nicht das Ziel ist, die Angst grundsätzlich und ein für alle Mal loszuwerden. Zu erfahren, dass ich nicht erst mutig und frei sein kann, wenn die Angst weg ist. Sondern das es möglich für mich ist, ihr eine neue Bedeutung zu geben. Sie zu studieren und kennenzulernen. Denn: dieses Kapitel meines Lebens habe ich mühsam, weitestgehend alleine und mit viel Schmerz verbunden, in den vergangenen neun Jahren meines Lebens, erarbeitet. Lange Zeit fühlte ich mich damit sehr alleine und war oftmals der Verzweiflung nah.


Das Kapitel trägt die Überschrift:

Als ich die Angst zu lieben begann.

Ich weiß den Moment noch sehr genau, an dem es bei mir final Klick gemacht hat. Nach Jahren voller Therapien, Selbststudium, großen Veränderungen in meinem Leben (Trennungen aus toxischen Beziehungen, Umzug in meine eigene Wohnung im Wald, Begleitung des Sterbeprozesses meines Großvaters, Re-Connection mit der Natur, Verzicht auf Alkohol und dem Erkennen vieler destruktiver Verhaltens- und Glaubensmuster) habe ich mich, vor fast genau 3 Jahren - am 20. April 2018 - in Vollzeit selbstständig gemacht.
Dazu habe ich meine Liebsten und Vertrauten in einer Umfrage um ein ganz ehrliches und konstruktives Feedback zu meiner Person gebeten. Ich war schon immer sehr neugierig und wollte wirklich begreifen, wie andere mich wahrnehmen. Um mich als Marke zu finden und kommunizieren zu können.

Und dann kam der Hammer. Nach Jahren, in denen ich gefühlt nichts konnte, voller Angst und Panik war, drückte ich auf die Auswertung der Umfrage. 35 Personen haben teilgenommen, sich Zeit und Raum genommen, um mir eine Rückmeldung zu geben. Alleine schon das hat mich völlig geflashed. Und dann habe ich etwas gelesen, was ich nicht glauben konnte. Irgendwas konnte nicht stimmen.

31 von 35 Personen haben Mut als eine meiner zwei wertvollsten Eigenschaften beschrieben.

Von meiner ehemaligen Ausbilderin, mit der ich ein wunderbar inniges und vertrauensvolles Verhältnis habe und die mich auf meinem Weg sehr geprägt hat, las ich folgende Zeilen:

Deinen Mut hatte ich in Deinem Alter nicht und habe ihn auch heute nicht.

😲


Mir blieb die Spucke weg. Mut. Ja genau. Ich. Die, die nicht Autofahren kann, ohne Panik zu bekommen. Die, die in Therapie war und sich ihre Abgründe anschauen musste, um wieder auf Spur zu kommen. Diese Laura wird von allen als „die Mutige“ beschrieben?! Kleine Randnotiz: In dem Fragebogen an meine Liebsten waren keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Es war eine offene Frage, wäre ich doch NIE IM LEBEN auf die absurde Idee gekommen, Mut als eine der Eigenschaften zur Auswahl zu stellen.

Diese Auswertung der Umfrage hat den Grundstein zu so vielem gelegt, an dem ich die folgenden Jahre privat wie beruflich bearbeitet habe.

Meine drei Haupterkenntnisse:

Krawumm 💥🎇Da war sie nun. Meine neue Lebenswahrheit. Ein so unendlich großer Brocken fiel von meinen Schultern. Endlich habe ich begriffen, was ich schon so lange fühlte: nicht die angstfreien Menschen sind die Mutigen. Sondern diejenigen, die sich trauen, ihre Ängste zu fühlen. Wahrzunehmen. Sie anzuschauen und zu verstehen. Und dann – und das ist elementar – trotzdem die eigenen Schritte zu gehen.

I think fearless is having fears but jumping anyway

Taylor Swift

Heute bin ich an dem Punkt, dass ich wahnsinnig dankbar für meine Angst und meinen Weg bin. Ja. Er war oftmals wirklich nicht einfach. Es war sicher nicht „der Weg des geringsten Widerstandes“. Ich habe viel Trauer, Schmerz, Scham und Angst gefühlt und durchlebt.
Heute weiß ich: das war der notwendige Weg, um meinen Kompass auszurichten. Auf das, was für mich wirklich zählt – mit allen Konsequenzen.

Und vielleicht denkst Du jetzt: ja, die hat ja leicht reden. Die hat ihre Ängste ja auch alle überwunden. Wenn ich erstmal soweit bin, dann… STOPP!
Ich bin weit davon entfernt, angstfrei zu sein. Doch wir haben immer die Wahl, wohin wir unsere Aufmerksamkeit schicken. Welcher inneren Stimme wir lauschen. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit – you know that already!

Ich habe noch immer Angst, z.B. davor, im Auto auf der Autobahn zu fahren. Ich als Fahrerin am Steuer: auch im Jahr 2021 für mich undenkbar. Nach einer dramatischen Panikattacke (als Fahrerin am Steuer im Jahr 2014) blockiert mein System immer noch sofort.

Nachdem ich mir jahrelang vorgeworfen habe, dass ich das nicht kann und wie schwach und blöde das ist, habe ich eine Entscheidung getroffen: ich fahre Bahn oder lasse mich fahren. Punkt. Ich schenke dieser einen Sache, die ich nicht kann, nicht meinen gesamten Fokus und labe mich daran, was ich aktuell nicht gut kann. Das ist verschenkte Energie! Ich werde das wieder lernen - nur vielleicht nicht jetzt gerade.

Und weißt Du was? Ich bin vor 17 Tagen nach Schweden gezogen. Für einige Monate. Weil es ein großer Traum von mir war.

Ich hätte jetzt sagen können: ich zieh nach Schweden, wenn ich …

… keine Angst mehr habe, Autobahn zu fahren

… keine Angst mehr habe, dass Corona die Zeit dort verdirbt

… keine Angst mehr habe, dass ich meine Liebsten schrecklich vermisse

… keine Angst mehr habe, dass der Kater auf der Reise krank wird

… keine Angst mehr habe, dass ich die ach-so-schöne Einsamkeit nicht aushalte

… keine Angst mehr habe, dass meine Selbstständigkeit nicht erfolgreich läuft

… keine Angst mehr habe, dass mein Partner und ich uns nicht verstehen

Okay. Ich lasse es hier mal mit meinen Ängsten stehen 😉 Nicht, weil mir keine weiteren einfallen, sondern um auf den wichtigen nächsten Punkt zu kommen.

Denn weißt Du was? Wenn ich weiter auf einen angstfreien Moment gewartet hätte, dann wäre ich mit 85 Jahren noch nicht nach Schweden gezogen und wäre im „das wäre toll, einmal ein paar Monate in Schweden leben“-Traum hängen geblieben und hätte vermutlich das Außen verantwortlich gemacht, dass es leider ja nicht geklappt hat. Corona. Selbstständigkeit. Die Ängste... Vielleicht hat es nicht sollen sein.

Angst ist Neugierde ohne Atmung. Also: rein ins Abenteuer und das Atmen nicht vergessen. Dann kann aus Angst, wie durch ein Wunder, wieder kindliche Neugierde werden.

Weite | Freiheit | Neues | Atem | Mut


Meine Angst ist weiterhin da. Jeden Tag. Mal lauter, mal leiser. Und ich liebe sie. Denn, sie zeigt mir auf, wo ich tiefer schauen darf. Wo das volle Potential für Mut und Vertrauen verborgen ist. Wo ich mich besser kennenlernen und dem Leben eine Chance geben darf, sich von seiner besten Seite zu zeigen.
Sie hat jetzt ihren festen Platz in meinem Leben: den Beifahrersitz.
Dort kann ich sie hören, als Beraterin wahrnehmen, sie ernstnehmen.
Aber am Steuer, da sitze ich.  

Und ich lenke mein Leben. Kraftvoll. Mutig. Und ängstlich zugleich.


Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Es ist vielmehr die Entscheidung, die eigene Angst zu spüren, wahrzunehmen und dann dem Sog des wilden Lebens zu folgen - trotz Angst!

Laura Roschewitz
Halenreie 4
22359 Hamburg