Was tun? Angststörung im Homeoffice & Büro

Hinter der jungen, dynamischen Kollegin, die wir täglich im Büro treffen, die oftmals früh da ist und spät wieder geht, steht eine Geschichte. Pauline hat Angst. Eine Betrachtung.

Seit bald zwei Jahren werden wir alle vor unerwartete Herausforderungen und unfreiwillige Veränderungen gestellt – sowohl als Kollektiv als auch als Individuen. In nahezu allen Bereichen des Lebens mussten wir unsere Gewohnheiten anpassen, uns einschränken und neue Wege gehen.

Auch in Arbeitsumfeld sind wir mit großen Veränderungen konfrontiert worden. Strukturen, Prozesse und Abläufe haben sich für viele von uns grundlegend verändert. Durch Homeoffice, häufige virtuelle Kommunikation und den Wegfall vieler sozialer Stützen und Routinen haben wir alle zu kämpfen, aber im besonderen Maße Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Denn: Gerade in psychisch instabilen Phasen des Lebens sind Gewohnheiten, Routinen und Struktur wichtige Säulen des Lebens. Da diese Säulen in den vergangenen zwei Jahren für uns alle mehr oder weniger weggebrochen sind, ist es elementar, sich damit zu befassen, was diese Veränderungen mit uns machen und wie wir ihnen jetzt achtsam begegnen können.

Ohne dieses Bewusstsein ist das Risiko hoch, dass wir nach der Coronapandemie in eine Pandemie der seelischen Erkrankungen geraten.

Mit Angststörung arbeiten ist ein Kraft- und Balanceakt

Was bedeutet es für einen Menschen, mit einer Angststörung durchs (Berufs-)Leben zu gehen? Das ist bei jeder Person und psychischen Erkrankung individuell, aber es kann zum Beispiel so aussehen wie bei Pauline (34) aus Hamburg. Nach dem Studium der Wirtschaftspsychologie beginnt sie, sich zunächst als Juniorberaterin in einer Unternehmensberatung einen Namen zu machen. Sie ist dynamisch, ehrgeizig und weiß genau, wo sie hin möchte.

Hinter der jungen, dynamischen Frau, die wir täglich im Büro treffen, die oftmals früh da ist und spät wieder geht, steht eine Geschichte. Pauline hat Angst.

Seit ihrem 29. Lebensjahr leidet sie – mal stärker und mal weniger stark – unter Angstzuständen und Panikattacken. Ihre Diagnose: generalisierte Angststörung und mittelgradige depressive Episode.

Sie hat viel auf sich genommen, um gesellschafts- und vor allem arbeitsfähig zu bleiben. Phasenweise ist es ihr nicht gelungen. Da war sie über Wochen, einmal sogar über mehrere Monate krankgeschrieben. Zu stark die Ängste, die Belastungen und die Einschränkungen im Alltag. Zu schwierig, es vor Kolleg·innen, Team und Vorgesetzten zu verbergen. Klinikaufenthalt. Ambulante Therapie. Gespräche mit verständnisvollen Menschen im Umfeld. Aber nie hat sie das Gespräch mit Kolleg·innen oder ihren Vorgesetzten dazu gesucht. Zu groß die Angst, als schwach, nicht belastbar und krank abgestempelt zu werden. Zu groß die Scham vor sich selbst.

Dies sind ihre Worte: Ich, Pauline, die mit großen Kund·innen verhandelt, Aufträge an Land zieht und charmant, wortgewandt und witzig mit allen gut klarkommt, soll eine Schisserin sein? Eine mit so viel Angst, mit kindlichen Anteilen und vielen Befürchtungen? Das KANN ich niemandem erzählen – niemandem, der mit mir beruflich zu tun hat. Der oder die meine Karriere beeinflussen kann. Zu groß das Risiko, mich so verletzlich zu zeigen. Niemand von den anderen wird das verstehen, so tickt halt niemand. Solche absurden Ängste und Gedanken kennen die anderen nicht.

Angst vor Menschenmengen, vor öffentlichen Verkehrsmitteln – verschiedenste Ängste haben ihre vergangenen Monate und Jahre und damit auch ihr Selbstbild geprägt. Was für ein Kraftakt, Tag für Tag dieses Bild morgens aus dem Spiegel zu schieben und wieder klar auf sich selbst zu sehen. Und zu denken: Für die Arbeit muss es irgendwie gehen. Es muss einfach!

Dann ist März 2020: Pauline und ihr gesamtes Team werden von einem Tag auf den nächsten ins Homeoffice geschickt. Pauline denkt sich: Homeoffice? Das ist doch eher was für digitale Nomaden, so 20-jährige fancy Youtuber. Aber sie? Von zu Hause arbeiten?

Atmen. Es hat ja auch seine Vorteile.

Nicht mehr mit der verhassten vollen U-Bahn fahren.

Nicht mehr den gefürchteten Fahrstuhl in den 7. Stock nutzen müssen.

Nicht mehr kalt schwitzend vor den Präsentationen gute Miene zum bösen Spiel machen.

Keine Ausreden mehr ausdenken.

Auf einen Schlag wird ihr Bewegungradius so eng, wie sie ihn sich eigentlich seit Jahren gewünscht hat. Nur sie. In ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung. Mit ihrem Kater. Langsam fängt die Vorstellung an, ihr zu gefallen.

Ihr fällt auf, wie stressig viele Situationen bei der Arbeit für sie waren: Gemeinsam zu Mittag essen. Abends zur Happy Hour Cocktails trinken. In einem Raum mit fünf anderen Personen arbeiten. Oftmals haben all diese Situationen ihr so viel Kraft abverlangt, dass sie abends komplett ausgelaugt war.

Stolz und Scham kämpfen seit Jahren einen erbitterten Kampf in ihr. Die Stimmen in ihrem Kopf klingen dann so:

Einerseits: Wow, klasse – super dass du die vielen Termine heute gewuppt hast, kleine Pauline!

Aber auch: Ganz ehrlich?! Das kann ja wohl jede·r. Schlimm genug, dass du so ein Softie bist und dir das alles so schwerfällt.

Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung kollidieren

Wenn wir Paulines berufliches Umfeld befragten, mit welchen Werten sie sie beschreiben würden, wäre Angst ganz sicher nicht unter den Top fünf! Sie akquiriert voller Elan und erfolgreich große Projekte, geht oft aus ihrer Komfortzone heraus, ist erfolgreich. Sie ist beliebt bei allen, immer für einen kleinen Witz zu haben und engagiert sich im Team für Gerechtigkeit und eine konstruktive Kommunikation. Nicht gerade „Schisser-Eigenschaften“ oder?

Und da liegt der Hase im Pfeffer. Denn Pauline versucht immer, den ihr zugeschriebenen Eigenschaften zu entsprechen. Auf der Arbeit. Im Bekanntenkreis. Doch es kostet sie viel Kraft, immer eine Rolle zu spielen und fast niemandem zeigen zu können, welche anderen Dinge da noch in ihr wohnen.

Es wird April 2020, Mai, Juni, und Pauline hat sich vollkommen an die neue Situation gewöhnt. Sie arbeitet am Küchentisch, trinkt viel Tee, muss sich nicht großartig verkleiden oder verstellen. Es beginnt sich richtig gut anzufühlen – wenn auch gelegentlich etwas einsam. Ein bisschen Zoom, keine Partys, kaum Sozialleben. Eigentlich verlässt sie das Haus nur, wenn es dringend sein muss.

Doch allmählich werden ihr die Menschen, die an den sonnigen Frühlingstagen um die Alster schlendern, zu viele. Auch die Atmosphäre im Supermarkt ist ihr zu angespannt. Nach und nach wird ihr Zuhause zu ihrem Safe Space, den sie immer seltener verlässt. Sie fällt nicht auf in dieser Zeit – genau so soll sie sich schließlich verhalten. Auch im Sommer bleibt Pauline innerhalb ihres engen Radius. Schwimmen? Open-Air-Kino? Sie erfindet Ausreden: Ich habe so viel Arbeit. Zack, Diskussion beendet. Manchmal erinnert sie sich an ihre Zeit in der Klinik. Fühlte sich das Leben dort nicht ähnlich an? Ja: sicher, aber wenig lebendig.

Monate später wird in Paulines Abteilung eine Exitstrategie aus dem Homeoffice erarbeitet. Ab wann werden wieder alle in den Büros sein? Wer arbeitet bis dahin wann, wie und wo? Wie ist es mit Geschäftsgästen? Wer ist geimpft und wer nicht? Nach gut anderthalb Jahren im Homeoffice zeichnet sich langsam ein Ende dieser Zeit ab.

In Pauline steigt die Panik von Woche zu Woche. Während viele ihrer Kolleg·innen sich freuen, fühlt sie sich ständig angespannt. Als ihre Vorgesetzte sie anspricht, ob sie eher in der ersten oder zweiten Runde der Bürorückkehrer·innen sein möchte, weiß sie keine Antwort. Dabei möchte sie überhaupt nicht zurück zu all den Herausforderungen, die sich aktuell nach Überforderungen anfühlen.

Der Angst mit Mut entgegentreten

Der Gegenspieler zur Angst ist Mut. Mut funktioniert wie ein Muskel, wir können ihn regelmäßig trainieren, dann wächst er, und wir können der Angst auf Augenhöhe begegnen. Wenn wir jedoch aufhören, diesen Muskel zu trainieren, uns hauptsächlich in unserer Komfortzone aufhalten und den Radius verkleinern, spüren Menschen wie Pauline die Folgen oftmals erst spät. Sehr spät.

In der Psychotherapie heißt mutig sein: regelmäßige Konfrontation und Exposition.

Sprich: Der betroffene Mensch stellt sich regelmäßig seinen angstauslösenden Situationen. Durch diese Regelmäßigkeit kann das Gehirn immer wieder den Realitätscheck machen: Ist die Situation wirklich angstauslösend? Oder ist das „nur“ in mir?

Vermeidung der angstauslösenden Situationen führt bei Angsterkrankungen in der Regel zu starker Verschlechterung – die sogenannte Spirale der Angst beginnt. Es wird immer schwieriger, sich den angstauslösenden Situationen zu stellen, der Radius der Betroffenen wird immer kleiner. Das führt zu dauerhafter Anspannung, Ausschluss aus dem Sozialleben, ständiger Sorge und vielen anderen Symptomen. Wir müssen verhindern, dass psychisch Erkrankte jetzt ohne Unterstützung zurückgelassen werden – aus individuellem, unternehmerischem und vor allem sozial-gesellschaftlichem Interesse!

Was kann jede·r Eizelne tun?

Der größte und, meiner Meinung nach wichtigste Schritt ist, dass wir das Thema der psychischen Gesundheit auf die Agenda schreiben. Welche Agenda?

Jede! Denn im Umgang mit psychischen Problemen spielen Freundeskreis, Familie, Kollegium wie auch Institutionen wie Krankenkassen eine tragende Rolle.

Große Organisationen brauchen Menschen, die sich für Mental-Health-Awareness einsetzen. Für nichtbetroffene oder nichtgeschulte Menschen ist es schwer bis gar nicht möglich ist, im Alltag auf dieses Thema gezielt zu achten.

Als Vorgesetzte

Bitte bildet euch fort und holt euch Unterstützung. Niemand muss von sich aus wissen, die man mit diesem Thema umgeht. Lebt Offenheit, wenn es um dieses Thema geht. Menschen mit psychischen Erkrankungen brauchen Rollenvorbilder und einen sicheren Raum, um sich mit ihren Problemen und Sorgen zeigen zu können. Wirken kann:

  • Externe Fachberatung in die Firma holen.
  • Das Thema als Führungskraft offen und proaktiv ansprechen, in einem unverfänglichen Rahmen, der keinen Druck ausübt und sich an alle Mitarbeitenden gleichermaßen richtet.
  • Transparenz über Kommunikationskanäle schaffen. An wen kann ich mich richten?
  • Flexibilität zeigen und wirkliche Anpassung an Bedürfnisse anbieten.

Im Kollegium und Freundeskreis

Seid wachsam und traut eurer Intuition. Ein Mitarbeitender Mensch hat sich verändert? Ist vielleicht zurückgezogen oder sehr ängstlich?

Schafft ein offenes Gesprächsumfeld: Was fällt euch gerade schwer? Was macht euch Sorgen?

Nichts ist meiner Erfahrung nach wirksamer, als die eigene Verletzlichkeit, die eigenen Abgründe und Herausforderungen auf den Tisch zu legen. Die Schwächen, Sorgen und Ängste zu thematisieren.

Als Unternehmen/Organisation

Einen sicheren Raum schaffen und in der Praxis durchsetzen. Der Umgang mit psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz bedarf einer offenen Kommunikationskultur ohne Angst vor Mobbing, negativen Konsequenzen für unsere Karriere oder vor sozialer Ausgrenzung.

Wie sagte bereits die große Hannah Ahrendt:

„Nur wer sich selbst in das Wagnis der Öffentlichkeit begibt, mit allem was da in uns wohnt, kann diese auch erreichen.“

Welchen einen Schritt kannst du heute gehen, um jemandem die Angst zu nehmen? Gehe ihn!

Dieser Artikel erschien zuerst bei XING

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Laura Roschewitz
Halenreie 4
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